Dienstag, 28. April 2020

Drewitzer See


Drewitz, Kilometer 0, 1353 Tief in den Wäldern Mecklenburgs entsteht ein Dorf. Sein Name stammt vom slawischen Wort drewo. Das bedeutet Holz. Den Namen Drewitz könnte man also mit Holzhausen übersetzen. Er passt perfekt. Die Drewitzer haben seit Jahrhunderten jede Menge Holz vor der Hütte.


1765 Das Dorf besteht aus einem Gutshaus, ringsherum einige Äcker. Die Drewitzer wohnen nicht mehr direkt am See, sondern noch tiefer im Wald. Lassen wir den See lieber in Ruhe - das ist nicht nur das Motto des Dorfes, sondern auch des Rundwegs um diesen geheimen See.

1900 Weil der Boden zu leicht für die Landwirtschaft ist, werden alle verbliebenen Äcker aufgeforstet. Es leben nur noch 80 Menschen in Drewitz, die beim Forsthof oder der Försterei arbeiten. Ihr Motto lautet: Ich und mein Holz!

2020 Heute wohnen hier mehrere fröhliche Familien, deren Kinder lautstark im Garten spielen. Auf einem Gehöft ist eine umfangreiche Bobbycar-Sammlung zu sehen.

09:55 Wir kommen in Drewitz an und suchen den Geheimsee.


10:03 Der Weg führt uns nach Süden durch einen Moos- und Märchenwald voller Nadelbäume. Einige davon haben seltsame Formen. Es ist ein Wald, wie er auch direkt am Strand wachsen könnte. Horch, rauscht da nicht die Ostsee? Nein, es ist nur der Wind in den Bäumen. Die helle Sonne wirft Schattenstreifen auf den Asphalt. Diese Wunderlandschaft nennt sich Nossentiner Heide.
Schmale asphaltierte Straßen führen durch das Gehölz. Alle 20 bis 30 Minuten taucht mal ein Auto auf. Ab und zu ist eine (ganz oder teilweise) abgeholzte Fläche zu sehen. Ob hier der Borkenkäfer aktiv war?

10:04 Drei Hirschkühe laufen durch das Unterholz.

10:05 Wir machen einen Abstecher nach rechts. Er führt am 75 Meter hohen Eichberg vorbei. Dennoch bemerken wir keinerlei Steigung.


10:08 Wir erreichen ein großes Tor. Für Autos ist es verschlossen, doch für alle anderen führt ein Pfad an der Seite vorbei. Dahinter erheben sich weiße Ferienhäuser.


1962 Der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker hat einen seiner Jagdsitze in einem wunderschönen weißen reetgedeckten Haus direkt am See. Sogar eine Jagdkutsche gehört dazu. Wenn besonders viele Wachleute am Tor standen, wussten die Drewitzer: Honni ist da. Allzu oft war er aber nicht hier. Rund um seinen Landsitz durfte man keine Pilze suchen.
Erich lebte wie ein Graf im Mittelalter und nicht wie das Oberhaupt eines Landes, in dem man zumindest so tat, als seien alle Menschen gleich.

2020 Heute gehört das Gelände einem internationalen, kapitalistischen Großkonzern aus den Niederlanden. (Wenn das der Honni wüsste...) Van der Valk betreibt hier ein Ferienresort.


10:19 Wir sind wieder am Hauptweg. Der macht einen weiten Bogen nach Osten. Am See verlaufen keine Wege.

10:37 Wir biegen rechts ab. Eine Schneise verläuft durch den Wald. Ist die extra für die Stromleitung entstanden oder stand hier die Mauer um Honeckers Privatwald? (Ja, eine solche gab es.)


10:50, Nossentiner Hütte, Kilometer 7,4 Wir durchqueren ein Dorf aus blassgrünen Häusern und einer neuen rechteckigen Kirche ohne richtigen Turm. Dort biegen wir auf die Hauptstraße ab.

6. Klasse In einem der blassgrünen Häuser verbringe ich eine Klassenfahrt, während der wir überwiegend in der Kirche musizieren und frieren.


10:53 Laut Karte sollten wir an der Hauptstraße bleiben. Wir wollen aber endlich richtig zum See und fahren nach rechts. Wieso verläuft der Rundweg nicht dort?

11:18 Ah, deswegen: Der Weg ist total sandig und schlecht befahrbar. Außerdem sind wir nicht ganz sicher, welcher Weg der richtige ist.

11:28 Wir finden ein bezauberndes Stückchen Strand, das wir ganz für uns haben. Irgendwo in der Ferne sonnt sich ein nackter Mann.

11:39 Ich wate in den See hinein. Er soll der klarste See Mecklenburgs sein. Eine Weile ist er tatsächlich sehr hell, klar und flach. An seinem Ufer wächst trockenes Kitzelschilf.

11:42 Ein Schwarm dunkelgrüner Fische von etwa 5 Millimeter Länge schwärmt an mir vorbei. Ich kann mich nicht erinnern, in einem deutschen Gewässer je so viele Fische gesehen zu haben.

11:44 Plötzlich wird das Wasser etwa zehn Meter tiefer, zehn Grad kälter und zehn Farbstufen dunkler, am Grund wachsen Algen. Der See ist bis zu 32 Meter tief. Dort unten ist er mit dem Grundwasser verbunden, das eine Menge Kalk beimischt. Ansonsten hat er keinerlei Verbindung zu anderen Gewässern.
Der Drewitzer See hat die Form mehrerer verbundener Blasen, die zusammen etwa 7,5 Kilometer lang sind.


12:30 Das 5-Gänge-Menü von Campingkocher ist fertig: Nudeln, Kakao, Pudding, Erbsensuppe und Tee.


100 000 v. Chr. In der letzten Eiszeit formt eine Schmelzwasserrinne das Becken für den heutigen See. Das Wasser transportiert eine Menge Sand und Findlinge. Das geschah überall in Mecklenburg, aber hier ist so viel Sand angekommen, dass die Hügel offiziell als Dünen bezeichnet werden.

3000 v. Chr. Die Jungsteinzeitmenschen errichten aus den Findlingen ein Hügelgrab. Dazu nehmen sie fünf sehr große Steine und hängen jeden davon über ein paar kleinere. Zwei davon hängen dort heute noch ab, die andere liegen inzwischen auf dem Boden. Wie die Menschen das wohl gebaut haben? Vermutlich haben sie erst die Steine platziert und dann die Erde darunter weggebuddelt.


14:31, Sparow (pardon, Captain Jack Sparow), Kilometer 12 Wir gelangen wieder zur Hauptstraße. Die Häuser von Sparow scheinen alle halb in kleine Hügel eingegraben zu sein. In einem dieser Hügelhütten liegt ein Teerschwelerhof, darin wurde Teer produziert. Kein Wunder, dass wir ab jetzt auf geteerten Wegen fahren und den Sand hinter uns lassen.


14:33 Der Radweg an der Hauptstraße führt rasant bergab. Unten erwartet uns ein steinernes Kreuz mit ungewisser Vergangenheit.

ca. 1800, erste Version Sparow hat keine Kirche. Die Sparower müssen zum Gottesdienst immer nach Alt Schwerin laufen. Als Wegmarke dient ein Kreuz aus Granit.

ca. 1800, alternative Version Ein Räuber erschlägt einen Bauern, der aus Alt Schwerin zurückkehrt. In seinem Sack ist aber kein Geld, sondern nur frische Butter. Als Strafe soll der Mörder an der Stelle das Butterkreuz errichten.


14:38, Alt Schwerin, Kilometer 13,8 Auf der anderen Seite der Autobahn liegt die größte Ortschaft am Drewitzer See: Alt Schwerin. Er wird deshalb auch manchmal Alt Schweriner See genannt. Dahinter ist auch schon der nächste See zu erahnen, der Plauer See.
Alt Schwerin war schon immer sehr gut aufgestellt für ein Dorf in dieser abgelegenen Gegend. Es hatte zum Beispiel schon lange einen Bahnhof, der bis heute angefahren wird. Heute lebt die Seenplatte vom Tourismus, und Alt Schwerin hat sich mit einem Haufen Familienmuseen perfekt daran angepasst. Derzeit sind die alle geschlossen. Das Agroneum, ein Freilichtmuseuem zur Landwirtschaft, ist schon über die Autobahn sehr gut zu erkennen. Wer den Rest des Ortes sehen will, muss die Brücke überqueren.


1904 Der Kasten auf der rechten Seite wird errichtet. Er heißt Schnitterkaserne. Dort wohnt nicht etwa Gevatter Tod, sondern Saisonarbeiter aus Polen und der Ukraine.

1962 Die DDR richtet darin ein marxistisches Agrarmuseum ein, die Keimzelle des heutigen Agroneums. Das ursprüngliche Museum ist im Prinzip noch in Betrieb - nur dass heute die Einrichtung und die sozialistischen Texte des Museums selbst einen musealen Wert haben. Also quasi ein Museum hoch zwei.


1848 Ein Bauernhaus wird zur Dorfschule. Für das Schulwesen ist der geizige Gutsherr zuständig. Der Lehrer benötigt noch zwei Nebenjobs (Bauer und Küster), um über die Runden zu kommen.

14:40 Die Dorfschule ist heute ein Schulmuseuem. "Fahr mal rüber und guck durch die Fenster, das ist so schön da!", wird mir geraten.

14:59 Ähm, ja. Hinter den Fenstern sehe ich wunderschöne, strahlend weiße Rollos. Toll, dass die Kinder damals trotz der finanziellen Knappheit so schöne Rollos hatten!


15:06 Die Straße führt zwischen Autobahn und See entlang. Ab Alt Schwerin müssen wir immer nur geradeaus.


15:11 Ab durch den Wald, ein paar Meter entfernt rauscht die A19.

15:22 Immer noch Wald.

15:33 Was soll ich sagen? Wald.

15:35 Links ist der Kleine Dreiersee zu sehen. Hier befindet sich eine weitere Ferienanlage.


15:36 Der Weg wird unbefestigt. Macht nichts, der ist trotzdem viel besser befahrbar als die wilden Sandwege auf der anderen Seite.

ca. 1700, Ortkrug, Kilometer 21,8 Reisen mit dem Pferdefuhrwerk auf miesen Sandstraßen ist nervig und langsam. Um so wichtiger, dass es in regelmäßigen Abständen Krüge, also Unterkünfte, gibt. Alle Reisenden freuen sich, wenn sie am nördlichen Ende (plattdeutsch dat enn) des Drewitzer Sees ankommen und etwas zu essen bekommen. Das Wort Ort bedeutet ursprünglich auch so viel wie Ende, deshalb heißt der hier Ortkrug. Zu essen gibt es vor allem Fisch, denn der Ortkrug ist an einem kleinen Fischerdorf entstanden.

15:44 Ein Gasthaus gibt's an der Nordspitze des Sees nicht mehr, aber es stehen ein paar Häuser am Ufer. Das ist an diesem See so selten, dass man es schon mal erwähnen muss.
Außerdem erstreckt sich hier der Großsteingarten. Er enthält, nun ja, große Steine. Der große ganz vorn ist ein 1,5 Tonnen schwerer intermediärer Granatgneis. Das kann ich auf dem Schild gerade noch so entziffern.


15:46 Die Namen der übrigen Steine bleiben ein Rätsel. Die Schilder sind nicht sehr auskunftsfreudig.


16:05 Die Straße wird wieder asphaltiert. Noch zweimal rechts abbiegen, dann sind wir wieder am Startpunkt.

16:19 Am Wegesrand erhebt sich eine Ameisen-Agglomeration. Ungefähr zehn Ameisenhügel stehen auf einer Strecke von 100 Metern. So viele habe ich noch nie auf einmal gesehen. Es handelt sich dabei um diese wirklich großen, schwarzen Waldameisen.


16:36 Drewitz, Kilometer 26 Schon haben wir das Ziel erreicht. Es ist ja auch der kürzeste der Mecklenburger Seenradwege. Wer kennt ihn schon, diesen Minisee im Herzen der Seenplatte, verborgen irgendwo zwischen der großen Müritz, dem Plauer See und der A19, mittendrin und doch so abgelegen? Auf Google Maps hat er nur eine Bewertung, die sich beschwert, man würde auf dem Rundweg nur durch den Wald fahren. Dabei bietet der kleine klare Geheimsee doch erstaunlich viel.

1 Kommentar:

  1. Das ist eine der schönsten Tourenbeschreibungen! Sehr witzig und informativ zugleich!

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